„Not Here Yet“ – großartige Fotografie-Ausstellung im H2 Zentrum für Gegenwartskunst

Die Vernissage am Freitagabend war möglicherweise gar nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Ausstellung anzuschauen. Für „Not Here Yet“ braucht es Ruhe und ein wenig Kontemplation. Ich werde demnächst nochmal hingehen und kann das nicht nur Fans der Fotografie empfehlen.

Elf renommierte Foto-Künstler haben die Kuratoren für „Not Here Yet“ angeworben, und H2-Chef Thomas Elsen betont, alle elf seien Wunschkandidaten gewesen, keiner zweitrangig oder Ersatzmann. Eine „Sammlung von Erfahrungen“ nennt seine Kuratoriums-Kollegin Celina Lunsford die Ausstellung. Und in der Tat haben die Künstler viel zum Thema (übersetzt etwa: „noch nicht angekommen“) zu zeigen – aber nicht auf den ersten Blick.

Einsamkeit herrscht vor in den Werken (auch Video und Installation gehören dazu), und die Frage, wer da an welchem Ziel noch nicht angekommen ist, bleibt oft unbeantwortet. Am drastischsten bei Hamish Fulton, dessen Schwarz-Weiß-Arbeiten die Wanderungen des Fotografen durch grandiose Berglandschaften dokumentieren. In der Schweiz wie in Nepal hat der Künstler seine Arbeit als erweiterte Meditation begriffen, mehrwöchige Fußmärsche mit nur wenigen Fotos. Seine Bilder zeigen eine grenzenlose Einsamkeit, die sich auch bei den anderen Künstlern wiederfindet. Während diese Einsamkeit bei Fulton eine gewollte und gesuchte ist, kommt sie beispielweise in Vitus Soloshankas Arbeiten von anderswo. Der angetrengte (?), erwartungsvolle (?) Blick eines blonden Kindes, das wartend (?)  an einem Straßenrand in der Nähe von Sotschi steht – das Auge des Betrachters sucht und findet Erklärungsmöglichkeiten, interpretiert schon beim Sehen – aber es gibt keine Eindeutigkeiten.

Viel Zeichenhaftigkeit, keine Erklärungen

„High Hopes“ heißt der Fotozyklus, entstanden in jahrelanger Arbeit in und um Sotschi. Was sehen wir, an einem halb zugezogenen Vorhang vorbei, draußen hinter dem Fenster? Eine Baugrube, eine Felswand? Auf welchen Durstigen (?), Gast (?), Freund (?) warten,  vor dem Fenster, die drei Teetassen, die dahinter gestapelten Kuchenstücke? Wozu dient das zusammengerollte Kabel mit den merkwürdigen Steckern auf dem Festernsims? Was enthält die Sprühdose daneben? Teppichreiniger? Fliegentod? Und wo sind die Menschen, die hier leben, hoffen? – Viel Zeichenhaftigkeit, keine Erklärungen. Der Tee scheint einladend, er könnte aber auch schon kalt geworden sein – die Szenerie ist abweisend, leer. Was wurde da erhofft, was trat ein, was blieb aus?

Leere prägt auch Andy Hellers Fotos aus San Franciso. Von wegen Großstadt: Heller zeigt leere Straßen, und was auf ihnen auf Menschen hindeutet, sind die kargen Besitztümer von Obdachlosen: Kartonagen, Papiertüten, Äste, ein Koffer. Helles Sonnelicht herrscht vor, aber es beleuchtet doch nur Einsamkeit und Kälte. Ganz künstlerisch und ohne dokumenarisches Elemente die Aufnahmen von Susanne Wellm: „With no direction home“ nennt sie ihre Arbeiten, die rätselhaftesten der Ausstellung. Wahrscheinlich spielt sie mit dem Titel auf Bob Dylans „Like a Rolling Stone“ an – auch hier ist Einsamkeit das Thema, without any home, like a complete unknown: Eine Hand, die eine Billardkugel, eine andere, die ein Pendel hält; das offenbar alte Schwarz-Weiß-Foto eines Fallschirmspringers – in welchem Krieg auch immer.

Flüchtlingshorror in symbolhaften Tableaus

Am konkretesten ist das „noch nicht angekommen“ in den Fotos des syrischen Flüchtlings Omar Imam: Er hat im Lager Schicksale von Mit-Flüchtlingen in symbolhaft-konkret arrangierte Tableaus gepackt – was für die Betroffenen therapeutische Wirkung haben mag, für den Betrachter in Zusammenhang mit den erklärenden Beitexten schlichten Horror sichtbar macht. Auf einem der Fotos sitzt eine Frau an einem mit zerbrochenem Geschirr, Besteck und einem Glas Wasser gedeckten Tisch. Ein Mann serviert mit dem Habitus eines Kellners ein Büschel Gras. Der Bildtext erklärt, die Frau, selbst unfähig, irgend etwas zu sich zu nehmen, habe, dem Hungertod nahe, ihre Kinder dazu überreden können, sich von Gras zu ernähren. Nun leben im Flüchtlingslager – von angekommen keine Rede.

Und schließlich, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, die großartigen Stilleben, die Johanna Diehl in aufgegebenen, leerstehenden Synagogen in der Ukraine fotografiert hat: Ein Gotteshaus als sterbendes, zerfallendes Gebäude, mit abblätterndem Putz und Eminem-Graffito an der schimmligen Wand. Ein anderes zur Turnhalle umfunktioniert, profanisiert mit den grellen Farben der Sportmatten und -geräte – aber das Licht flutet immer noch „göttlich“ durch die hohen Bogenfenster herein. Nur Einsamkeit ist zu spüren. Die (Er-)Lösung, der Erlöser, sie sind, wie auf vielen der Ausstellungsfotos, noch nicht da, „not here yet.“

Foto: Spielplatz der Hoffnungen aus leeren Kabelrollen – aus dem Zyklus „high hopes“, © Vitus Saloshanka, Sochi 2013.

Not Here Yet ist im H2 – Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast zu sehen bis zum 23. April 2017. Öffnungszeiten von Dienstag bis Sonntag, 10.00 – 17.00 Uhr.