Brechtbühne: „Oscar“ lässt die Trikolore im Spießertum untergehen

Der Rahmen der Bühne wirbt in den Trikolore-Farben für Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit – und solche Werbung scheint ja derzeit weltweit durchaus am Platze. Aber hier ist sie’s nicht und muss deshalb bald weichen: Denn das pathetische Rot-Weiß-Blau rahmt auf den Brettern der Brechtbühne ein Bild, in dem Claude Magniers „Oscar“ die Tugend zur Farce macht, das Leben zur Klamotte, in dem von den hehren Idealen nur der Trümmerhaufen bürgerlich-kleinfamiliärer Schadensbegrenzung bleibt.  

Den Plot dieser völlig abstrusen, unwahrscheinlichen und unglaubwürdigen Komödie kann man nicht, darf man nicht und muss man nicht erklären – in dem gewaltigen Screwball-Durcheinander verliert spätestens im zweiten Akt nicht nur das Bühnenpersonal, sondern auch das Publikum den Überblick. Wer nun noch weiß, in welchem der Koffer Millionen Francs, in welchem wertvoller Schmuck und in welchem Dessous versteckt sind, der kann sich erfolgreich als Hütchenspieler selbständig machen.

Die Marseillaise als Soundtrack des Autoritätsverfalls

Regisseur Alexander Marusch hat dieses Chaos als fröhlich-überdrehtes Ballett in Szene gesetzt: Immer schneller werden die Runden, in denen sich die Protagonisten der zunehmend sich verwirrenden Geschichte umeinander hetzen, und bevor am Ende alles gut werden darf, spielt die Musik lustig das „Allons enfant“ jener Hymne an, die einst die Geschichte der Demokratie mitbegründete – die Marseillaise als Soundtrack des bürgerlichen Verfalls. Mittelpunkt des Reigens ist Monsieur Barnier, den die Ausstattung (Gregor Sturm) mittels wehenden Morgenmantels zuerst zum absoluten Herrscher ausstaffiert, damit ihn die Regie anschließend heftig schrumpfen lassen kann. Zwischen rasend trotteliger Tochter (fast zu doof: Marlene Hoffmann), standesgemäß eingebildeter Ehefrau (auch doof und dazu noch laut: Ute Fiedler), gewitztem Stubenmädchen (dauerfrech: Jessica Higgins) und betrügerisch-intrigantem Angestellten (flott und glatt: Raimund Widra) kann dieser Möchtegern-Patriarch (Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung: Klaus Müller) erst spät wieder die Oberhand behaupten – in Wahrheit steuern ihn die Ereignisse und er rein gar nichts, nicht mal seine eigene Firma.

Die Weisheit verbirgt sich in der Wohnzimmer-Deko
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Überdrehtes Ballett der bürgerlichen Familie – von links nach rechts Marlene Hoffmann, Sebastián Arranz, Raimund Widra, Klaus Müller und Ute Fiedler.

Was lernt man in diesen zwei Stunden Brechtbühne? – Dass französische Stubenmädchen, egal welchen Alters, permanent rauchen wie die Schlote (ebenfalls qualmend und trotzdem sehr weiblich: Anton Koelbl als Charlotte); dass ein französischer Akzent ausreicht, um einer deutschsprachigen Inszenierung Pariser Flair zu verpassen, selbst wenn dann vom Furzen die Rede ist; dass Treppen ohne Stufen zu allerlei lachhaften Einfällen reizen; dass frau mit Krinoline nicht durch jede Tür passt; dass man Pudel leicht mit Staubmobs verwechseln kann; dass das Theater Augsburg über ein herrlich hochkomödiantisches Ensemble verfügt; und dass man „liberté, égalité, fraternité“ auch mit „Arbeit, Familie, Vaterland“ übersetzen kann. „Le jour de Gloire est arrivé“ – der Tag des Sieges kann statt revolutionärer Befreiung am Ende auch einfach bedeuten, dass ein trotteliges Trampel doch noch einen Ehemann gefunden hat und auch alle anderen Beteiligten irgendwie zufriedengestellt sind. Die ideologischen Werbeslogans sind zum weltgeschichtlich ewig Gleichen zusammengeschnurrt und vom tatsächlich Dauerhaften wissen höchstens die Terrakotta-Krieger in der Wohnzimmer-Deko. Aber die behalten ihre Weisheit glücklicherweise für sich.

Achso, ja, hm… – warum heißt das Ganze eigentlich „Oscar“? Möglicherweise, weil der gleichnamige Chauffeur (noch ein Doofer: Sebastián Arranz) am Schluss die trampelige Tochter und einen fetten Koffer abkriegt – den geistig Armen sei das Himmelreich oder, um den Masseur (ja, noch ein Bekloppter: David Dumas) nicht zu vergessen: das Irrenhaus. Kurz zusammengefasst: Im ersten Teil zwischenzeitlich die Befürchtung, das könnte vielleicht allzu viel des Quatsches sein – nach der Pause dann durch noch mehr Quatsch zur Erkenntnis. Und am Ende zu Recht: brausender Applaus.

Titelbild: Möchtegern-Patriarch Barnier (Klaus Müller) mit tumber Tochter (links Marlene Hoffmann) und nicht sehr heller Gemahlin (Ute Fiedler) – und der Terrakotta-Krieger schweigt dazu. Beide Fotos: Kai Wido Meyer.