Anstrengend, verstörend, fesselnd
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Brechts „Maßnahme“ im tim – ein großer Brechtabend
Der Andrang war enorm: Als am Sonntagabend im Textilmuseum (tim) zum Abschluss des diesjährigen Brechtfestivals „Die Maßnahme“ gespielt wurde, war nicht nur die Vorstellung schon seit Wochen ausverkauft. Auch zur vorangehenden Einführung kamen weit mehr Menschen, als die Veranstalter erwartet hatten. Und sogar nach Ende der Vorstellung blieben viele, um mit Regisseur, Wissenschaftlern und Schauspielern zu diskutieren. Der Andrang bei Brechts wohl umstrittenstem Stück schien nicht dem Skandal, sondern einem sehr intellektuellen, in die Tiefe gehenden Interesse geschuldet zu sein.
Der 85jährige Literaturwissenschaftler Klaus Hanzog hatte bei der Vorbesprechung schon das Interesse in die richtige Richtung gelegt: Nicht auf Regiekniffe, assoziative Aktualisierungen, Interpretationen komme es heute bei der „Maßnahme“ an, sondern auf eine möglichst werkgetreue Inszenierung, da es erst herauszufinden gelte, was Brecht eigentlich gewollt habe. Ein gegen jede Art von Regietheater gerichteter Einwand, der hier ausnahmsweise gerechtfertigt schien – denn tatsächlich kennt kaum einer das Stück, hat es nur eine äußerst kurze Inszenierungsgeschichte, die schon kurz nach der Uraufführung (1930 in Berlin) abbrach und in der Nachkriegszeit nicht nur wegen des Kalten Krieges und der virulenten Brecht-Skepsis im Westen nicht wieder aufgenommen wurde – auch Brecht selbst, später seine Erben erlaubten keine Aufführung mehr.
Ein Lehrstück bei grellem Licht
Nun war es also endlich soweit, und David Brückel zeigte das Stück nach Meinung aller anwesenden Fachleute genau so, wie der Autor sich das vorgestellt hatte. Das grelle Saallicht blieb an, denn es sollte nicht Illusionstheater folgen, sondern ein Lehrstück für Schauspieler, unterstützt von einem 45-köpfigen Chor aus sehr jungen Sängern (Leitung: Andrea Huber) und sechs Musikern des Leopold-Mozart-Zentrums (Musikalische Gesamtleitung: Geoffrey Abbott), die Hanns Eislers Musik aufführten.
Drei russische Agitatoren reisen nach China, um dort die Revolution in Gang zu bringen. Im Gepäck haben sie – sehr zur Enttäuschung der sie erwartenden Genossen – keine Traktoren, keine Maschinengewehre, nicht einmal einen Brief des Zentralkomitees, sondern nur die „Lehren der Klassiker“, die Revolution betreffend. Der junge Genosse, der die Agitatoren vor Ort unterstützt, versagt bei mehreren Aufträgen. Weil er nicht bereit ist, Mitmenschlichkeit und Mitleid, Wut und Verzweiflung über die ausbeuterischen Zustände um des langfristigen Zieles willen hintanzustellen, misslingen die Pläne der Agitatoren, wird die „endgültige“ Beseitigung der Missstände verhindert. Auf der Flucht wird er schließlich auch noch ein Hindernis für die anderen. Damit er nicht gefasst und erkannt wird, erschießen die Agitatoren ihn – mit seinem Einverständnis. Brechts Text zwingt den Zuschauer, über dieses Ende sehr ernsthaft nachzudenken. „Auch ihr jetzt denkt nach über eine bessere Möglichkeit!“, wird das Publikum aufgefordert, und in Brückels Inszenierung folgt eine sehr lange, sehr ratlose, sehr gedrückte Stille, die fast wie ein stilles Gebet für den erschossenen Genossen wirkt.
Viele Verfremdungseffekte und (k)ein Bühnenbild
Die Inszenierung hatte sehr stringent auf dieses Ziel hingearbeitet – und Brecht Text sowieso. Eislers Musik, seine erste Arbeit für Brecht, tönt mal choralhaft, mal schrill marschierend im Stil seiner bekannten Arbeiterlieder, peitscht mal auf, kann aber auch auf dissonante Art besinnlich sein, treibt konsequent das Geschehen voran. Und ist natürlich ein maßgeblicher Faktor in Brechts Bemühen, das Stück jederzeit als gespieltes Stück kenntlich zu machen – ein siebenköpfiger, lauter Verfremdungseffekt. So auch der Chor, der bei Brecht „Kontrollchor“ heißt und die Aufgabe hat, die zurückgekehrten Agitatoren zu befragen, nicht anklagend, sondern neugierig, lernend, an Ursachen und Wirkungen interessiert. Es sei unbedingt notwendig gewesen, dass die Chormitglieder junge Menschen seien, betont Geoffrey Abbott – Menschen, die Fragen stellen und nicht die Antworten schon zu kennen glauben. Für Chorleiterin Andrea Huber und ihre Sänger und Sängerinnen war es ein hartes Stück Arbeit, den Text so exakt zu singen, zu sprechen und zu betonen, dass nahezu jedes Wort verständlich war.
Ein Bühnenbild benötigte die Aufführung nicht – es gab aber doch eines: Die hintere Wand zierte die Kulisse der „Kunst der Komödie“, die das Stadttheater derzeit im tim aufführt. Das störte nicht, diente eher als weiterer V-Effekt. Und wo es bei Brecht als Regieanweisung heißt, „Zwei Agitatoren stellen die Kulis dar, indem sie an einen Pflock ein Tau anbinden und das Tau über der Schulter ziehen“ – da konnte dies nahezu wörtlich umgesetzt werden: Der Strick wurde an eine der roten Säulen gebunden, die den Raum stützen. Die Rolle des jungen Genossen spielten die vier Schauspieler – auch hier wollte Brecht jede Art von Identifikation vermeiden – abwechselnd, ein rotes Halstuch diente als Kennzeichen.
Auf grandiose Weise modern
Das Verblüffende war nun, dass die „Maßnahme“ tatsächlich jene „unerhörte Energie“ entfaltete, von der Kanzog in seiner Einführung mehrmals gesprochen hatte. Es war dies aber nicht die Suggestion des Schau-, sondern die des Gedankenspiels. Es war großartig, in dieser Inszenierung zu erleben, dass Brechts Rezepte auch heute nicht nur noch funktionieren, sondern auf grandiose Weise modern sind. Und es war eine ebenso großartige Erfahrung zu erleben, dass das Publikum nicht nur bereit war, sich auf ein Experiment einzulassen, sondern auch dazu, diese Art von Gedankenarbeit zu leisten. Schließlich zeigte der begeisterte Applaus auch, dass Brecht nicht nur Spaß machen muss, um zu gefallen. Er durfte ruhig auch mal anstrengend, kontrovers, verstörend sein – und fesselte gerade dadurch.